Pandemie trifft Klassengesellschaft - Ein Vortrag von Nadja Rakowitz & Thomas Ebermann (2023)

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"Inzwischen sind nach offiziellen Angaben fast 170.000 Menschen in Deutschland (Stand 25. Februar 2023) an der Covid-19-Pandemie gestorben. Trotz einer breiteren Bevölkerungsimmunität und trotz verbesserten Behandlungsmethoden sind auch seit Beginn des Jahres 2023 täglich zwischen 70 und 300 Menschen in Deutschland an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben. Zudem wird von mindestens einer Millionen Long-Covid-Betroffenen ausgegangen.

Aber die Pandemie ist vorbei und Deutschland wäre gut aus der Krise rausgekommen, so lautet die breit zu vernehmende Botschaft. Seit die Kapazitäten der Intensivmedizin zum entscheidenden Kriterium erklärt und die Inzidenz abgewertet wurde, gilt das Sterben in geordneten Bahnen als Maßstab für erfolgreiches politisches Handeln. In öffentlichen Diskussionen scheint inzwischen sogar zuweilen das Resümee gezogen zu werden, man habe zu panisch und zu rigoros mit Schutzmaßnahmen agiert. Die Position, sich nicht mit 170.000 Toten als Kollateralschaden fürs Weiterlaufen des Betriebs abfinden zu wollen, wird hingegen nirgendwo mehr vertreten.

Es steht weiterhin zu befürchten, dass der inhumane Umgang mit den Covid-19-Opfern als Schablone für kommende Katastrophen dienen könnte. Womöglich wurde im Zuge der Covid-19-Pandemie gesellschaftlich verinnerlicht, dass in den kommenden Pandemien und Krisen alles gut laufe, solange die Zahl der Toten im internationalen Vergleich nicht heraussteche und die kritische Infrastruktur nicht zusammenbreche.

Die Corona-Pandemie ist keine Naturkatastrophe, sondern menschengemacht, weil die Wahrscheinlichkeit des Überspringens von gefährlichen Viren auf Menschen mit der Abholzung von Wäldern, massenhaftem Wildtierhandel und Massentierhaltung zusammenhängt. Das Virus trifft auch nicht alle gleichermaßen, sondern die ärmeren Teile der Bevölkerung überdurchschnittlich. Sie infizieren sich häufiger und sterben öfter. Pandemie trifft Klassengesellschaft.

Wie die Pandemie staatlicherseits gehandhabt wird und wurde, was emanzipatorische Kräfte tun müssten und warum die Rückkehr zum Normalzustand auch in endemischen Zeiten keine Perspektive sein kann, darüber wollen wir mit Thomas Ebermann und Nadja Rakowitz an diesem Abend diskutieren.

Es referieren und diskutieren: Nadja Rakowitz, Medizinsoziologin, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärzt*innen (vdää*) und im Bündnis Krankenhaus statt Fabrik und Thomas Ebermann, Kabarettist und Publizist.

Veranstaltende: Gruppe Polaris und der AStA der Universität zu Köln. "

(Text, Quelle & MP3: https://www.freie-radios.net/121305 | CC BY-NC-SA 2.0 DE | https://radio.nrdpl.org/2023/04/01/doku-pandemie-trifft-klassengesellschaft-23-03-2023-koeln/ )

Lesetipps:
Thomas Ebermann: Störung im Betriebsablauf
https://konkret-magazin.shop/detail/index/sArticle/131

Texte von Nadja Rakowitz:
https://jungle.world/autorin/nadja-rakowitz

»Wir leben und sterben rational und produktiv. Wir wissen, daß Zerstörung der Preis des Fortschritts ist wie der Tod der Preis des Lebens, daß Versagung und Mühe die Vorbedingungen für Genuß und Freude sind, daß die Geschäfte weiter gehen müssen und die Alternativen utopisch sind. Diese Ideologie gehört zum bestehenden Gesellschaftsapparat; sie ist für sein beständiges Funktionieren erforderlich und Teil seiner Rationalität.“« (Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 82f.)

»Der Zusammenhalt der gesellschaftlichen Ordnung hängt in einem beachtlichen Ausmaß davon ab, wie wirksam sich die Einzelnen dem Tod als einer mehr als bloß natürlichen Notwendigkeit fügen... wie sehr sie dem zustimmen, sich zu opfern... Die gesellschaftliche Ordnung verlangt Einwilligung in Mühsal und Resignation, Heldentum und Bestrafung der Sünden.« (Marcuse: Die Ideologie des Todes, In: Philosophie und Psychoanalyse, S. 101-114)

»Heute, im gedeihenden Kriegsführungs- und Wohlfahrtsstaat, scheinen die menschlichen Qualitäten eines befriedeten Daseins asozial und unpatriotisch – Qualitäten wie die Absage an alle Härte, Kumpanei und Brutalität; Ungehorsam gegenüber der Tyrannei der Mehrheit; das Eingeständnis von Angst und Schwäche (die vernünftigste Reaktion gegenüber dieser Gesellschaft!); eine empfindliche Intelligenz, die Ekel empfindet angesichts dessen, was verübt wird; der Einsatz für die schwächlichen und verhöhnten Aktionen des Protestes und der Weigerung. Auch diese Äußerungen der Humanität werden durch den notwendigen Kompromiß beeinträchtigt – durch das Bedürfnis, sich zu decken, imstande zu sein, die Betrüger zu betrügen, ihnen zum Trotz zu leben und zu denken. In der totalitären Gesellschaft tendieren die menschlichen Haltungen dazu, eskapistisch zu werden und Samuel Becketts Rat zu befolgen: »Don’t wait to be hunted to hide ..."« (Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 131f.)

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